Niemals Gewalt!
Liebe Freunde!
Das erste, was ich zu tun habe, ist Ihnen zu danken, und das tue ich von ganzem Herzen.
Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels strahlt einen solchen Glanz aus und ist
eine so hohe Auszeichnung, dass es einen fast überwältigt, empfängt man ihn. Und jetzt
stehe ich hier, wo schon so viele kluge Männer und Frauen ihre Gedanken und ihre
Hoffnungen für die Zukunft der Menschheit und den von uns allen ersehnten ewigen Frieden
ausgesprochen haben - was könnte ich wohl sagen, das nicht schon andere vor mir gesagt haben?
Über den Frieden sprechen heißt ja über etwas sprechen, das es nicht gibt. Wahren Frieden
gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie gegeben, es sei denn als Ziel, das wir
offenbar nicht zu erreichen vermögen. Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich
der Gewalt und dem Krieg verschrieben, und der uns vergönnte, zerbrechliche Friede ist
ständig bedroht. Gerade heute lebt die ganze Welt in der Furcht vor einem neuen Krieg, der
uns alle vernichten wird. Angesichts dieser Bedrohung setzen sich mehr Menschen denn je
zuvor für Frieden und Abrüstung ein - das ist wahr, das könnte eine Hoffnung sein.
Doch Hoffnung hegen fällt so schwer. Die Politiker versammeln sich in großer Zahl zu immer
neuen Gipfelgesprächen, und sie alle sprechen so eindringlich für Abrüstung, aber nur für
die Abrüstung, die die anderen vornehmen sollen. Dein Land soll abrüsten, nicht meines!
Keiner will den Anfang machen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sich fürchtet und so
geringes Vertrauen in den Friedenswillen des anderen setzt. Und während die eine
Abrüstungskonferenz die andere ablöst, findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Geschichte
der Menschheit statt. Kein Wunder, dass wir alle Angst haben, gleichgültig, ob wir einer
Großmacht angehören oder in einem kleinen neutralen Land leben. Wir alle wissen, dass ein
neuer Weltkrieg keinen von uns verschonen wird, und ob ich unter einem neutralen oder
nicht-neutralen Trümmerhaufen begraben liege, das dürfte kaum einen Unterschied machen.
Müssen wir uns nach diesen Jahrtausenden ständiger Kriege nicht fragen, ob der Mensch
nicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaft ist? Und sind wir unserer Aggressionen
wegen zum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine
Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir es nicht vielleicht lernen,
auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden?
Wie aber sollte das geschehen, und wo sollte man anfangen?
Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.
Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da
werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler
Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie
und meine Hoffnung für sie.
Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann
noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden
und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur
ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander
leben.
Gibt es auch nur die geringste Hoffnung darauf, dass die heutigen Kinder dereinst eine
friedlichere Welt aufbauen werden, als wir es vermocht haben? Und warum ist uns dies
trotz allen guten Willens so schlecht gelungen?
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, welch ein Schock es für mich gewesen ist, als mir
eines Tages - ich war damals noch sehr jung - klar wurde, dass die Männer, die die
Geschichte der Völker und der Welt lenkten, keine höheren Wesen mit übernatürlichen Gaben
und göttlicher Weisheit waren. Dass sie Menschen waren mit den gleichen menschlichen
Schwächen wie ich. Aber sie hatten Macht und konnten jeden Augenblick schicksalsschwere
Entscheidungen fällen, je nach den Antrieben und Kräften, von denen sie beherrscht wurden.
So konnte es, traf es sich besonders unglücklich, zum Krieg kommen, nur weil ein einziger
Mensch von Machtgier oder Rachsucht besessen war, von Eitelkeit oder Gewinnsucht, oder
aber - und das scheint das häufigste zu sein - von dem blinden Glauben an die Gewalt als
das wirksamste Hilfsmittel in allen Situationen. Entsprechend konnte ein einziger guter
und besonnener Mensch hier und da Katastrophen verhindern, eben weil er gut und besonnen
war und auf Gewalt verzichtete.
Daraus konnte ich nur das eine folgern:
Es sind immer auch einzelne Menschen, die die Geschichte der Welt bestimmen. Warum aber
waren denn nicht alle gut und besonnen? Warum gibt es so viele, die nur Gewalt wollten
und nach Macht strebten? Waren einige von Natur aus böse? Das konnte ich damals nicht
glauben, und ich glaube es auch heute nicht.
Die Intelligenz, die Gaben des Verstandes mögen zum größten Teil angeboren sein, aber
in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder
Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen
mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven,
egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist,
je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.
"Überall lernt man nur von dem, den man liebt",
hat Goethe einmal gesagt, und dann muss es wohl wahr sein.
Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt,
gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese
Grundeinstellung sein Leben lang. Und das ist auch dann gut, wenn das Kind später nicht
zu denen gehört, die das Schicksal der Welt lenken. Sollte das Kind aber wider Erwarten
eines Tages doch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist es für uns alle ein Glück, wenn
seinen Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und nicht durch Gewalt. Auch künftige
Staatsmänner und Politiker werden zu Charakteren geformt, noch bevor sie das fünfte
Lebensjahr erreicht haben - das ist erschreckend, aber es ist wahr.
Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging
es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer
oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in
Gewalt "von denen, die man liebt", nämlich von den eigenen Eltern erhalten und dieses
Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben!
Und so ging es fort, "Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben", hieß es schon im Alten
Testament, und daran haben durch die Jahrhunderte viele Väter und Mütter geglaubt. Sie
haben fleißig die Rute geschwungen und das Liebe genannt. Wie aber war denn nun die
Kindheit aller dieser wirklich "verdorbenen Knaben", von denen es zur Zeit so viele auf
der Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder?
Dem sollte man einmal nachgehen.
Ich bin überzeugt davon, dass wir bei den meisten von ihnen auf einen tyrannischen
Erzieher stoßen würden, der mit einer Rute hinter ihnen stand, ob sie nun aus Holz war
oder im Demütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachen bestand.
In den vielen von Hass geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von
solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und
Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum
Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern gegeben, denn natürlich haben Eltern
ihre Kinder auch schon von jeher mit Liebe und ohne Gewalt erzogen. Aber wohl erst in
unserem Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre Kinder als ihresgleichen zu
betrachten und ihnen das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in einer Familiendemokratie
ohne Unterdrückung und ohne Gewalt frei zu entwickeln.
Muss man da nicht verzweifeln, wenn jetzt plötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehr
zu dem alten autoritären System fordern? Denn genau das geschieht zur Zeit mancherortens
in der Welt. Man ruft jetzt wieder nach "härterer Zucht", nach "strafferen Zügeln" und
glaubt dadurch alle jugendlichen Unarten unterbinden zu können, die angeblich auf zuviel
Freiheit und zuwenig Strenge in der Erziehung beruhen. Das aber hieße den Teufel mit dem
Beelzebub austreiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehr Gewalt und zu einer tieferen
und gefährlicheren Kluft zwischen den Generationen.
Möglicherweise könnte diese erwünschte "härtere Zucht" eine äußerliche Wirkung erzielen,
die die Befürworter dann als Besserung deuten würden. Freilich nur so lange, bis auch sie
allmählich zu der Erkenntnis gezwungen werden, dass Gewalt immer wieder nur Gewalt erzeugt
- so wie es von jeher gewesen ist.
Nun mögen sich viele Eltern beunruhigt durch die neuen Signale fragen, ob sie es bisher
falsch gemacht haben. Ob eine freie Erziehung, in der die Erwachsenen es nicht für
selbstverständlich halten, dass sie das Recht haben zu befehlen und die Kinder die Pflicht
haben, sich zu fügen, womöglich nicht doch falsch oder gefährlich sei.
Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder sich selber überlässt,
dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen
aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen.
Verhaltensnormen brauchen wir alle, Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer
Eltern lernen die Kinder mehr als durch irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiss sollen
Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen auch Eltern Achtung vor
ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen.
Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und allen Kindern wünschen.
Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen,
möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame berichtet hat. Sie war eine junge
Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bibelspruch glaubte, dieses "Wer die Rute schont,
verdirbt den Knaben".
Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr
kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte,
die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem
Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort.
Schließlich kam er weinend zurück und sagte: "Ich habe keinen Stock finden können, aber
hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen."
Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des
Kindes. Das Kind musste gedacht haben, "Meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das
kann sie ja auch mit einem Stein."
Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte
sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an
das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte:
NIEMALS GEWALT!
Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohne Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel erziehen,
entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so
Einfältiges kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, dass es eine Utopie ist.
Und ganz gewiss gibt es in unserer armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das gleichfalls
geändert werden muss, soll es Frieden geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es - selbst
ohne Krieg - so unfassbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und das bleibt
den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich
glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand.
Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere
Art zu leben gibt?
Vielleicht wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein auf das Küchenbord legten als
Mahnung für uns und für die Kinder:
NIEMALS GEWALT!
Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt.